22.01.2024

Finance Business Next

Die Wesentlichkeitsanalyse in der Nachhaltigkeitsberichterstattung

22.01.2024  | Thomas Weber

Gemäß dem Einführungstext zur Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) sollten Unternehmen nur zur Offenlegung derjenigen Informationen verpflichtet werden, die für das Verständnis seiner Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsaspekte oder die für das Verständnis der Auswirkungen von Nachhaltigkeitsaspekten auf Geschäftsverlauf, Geschäftsergebnis und Lage des Unternehmens erforderlich sind. Ein Unternehmen hat aber auch über den Prozess zur Ermittlung der im Lagebericht aufgenommenen Informationen Bericht zu erstatten. Zu dem Verfahren wiederum sollten die Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung Leitlinien enthalten.

In einem ersten Vorschlag hatte die EFRAG (European Financial Reporting Advisory Group) das Verfahren der ‚widerlegbaren Vermutung‘ vorgestellt. Danach galt die Vermutung, dass über alle Berichtsanforderungen der European Sustainability Reporting Standards (ESRS) zu berichten ist, es sei denn, das Unternehmen kann den Nachweis führen, dass ein Nachhaltigkeitsstandard (oder auch ein einzelner Datenpunkt) für das betreffende Unternehmen nicht wesentlich sei und deshalb darüber auch nicht berichtet werde.

Dieser Vorschlag wurde sehr kontrovers diskutiert und letztendlich von der EFRAG wieder zurückgezogen. Die EU-Kommission hat nunmehr in ihrer finalen Veröffentlichung der ESRS vom 22.12.2023 festgelegt, dass neben dem Standard ESRS 2, der für alle Unternehmen verpflichtend gilt, die Berichtsanforderungen eines Unternehmens in Abhängigkeit von den Ergebnissen einer Wesentlichkeitsanalyse erfolgen sollten. Das bedeutet: wird ein Nachhaltigkeitsaspekt im Rahmen einer Wesentlichkeitsanalyse als wesentlich identifiziert, muss darüber gemäß den Vorgaben des betreffenden Nachhaltigkeitsstandards berichtet werden.

Begriff der Wesentlichkeit nach ESRS 1

Nach ESRS 1 Kap. 28 ist ein Nachhaltigkeitsaspekt wesentlich, wenn er die Kriterien für die Wesentlichkeit der Auswirkungen oder für die finanzielle Wesentlichkeit oder für beide erfüllt. Die Bedeutung des Begriffs ‚Wesentlichkeit‘ liegt darin begründet, dass die Bewertung der Wesentlichkeit den Ausgangspunkt für die Nachhaltigkeitsberichterstattung darstellt (Kap. 26). Das heißt im Umkehrschluss, dass die in einem Standard (oder einem Unterthema) vorgeschriebenen Informationen ausgelassen werden können, wenn diese Information als nicht wesentlich bewertet wird (Kap. 34b).

In ESRS 1 Anlage A (AR 16) sind diejenigen Nachhaltigkeitsaspekte aufgeführt, die bei der Bewertung der Wesentlichkeit herangezogen werden müssen. Die Aspekte sind nach Umwelt-, Soziale- und Governance-Themen gegliedert. Es wird darauf hingewiesen, dass die Liste ein Instrument zur Unterstützung der Bewertung der Wesentlichkeit darstellt und das Verfahren zur Ermittlung der wesentlichen Aspekte nicht ersetzt. Diese Auflistung muss gegebenenfalls durch unternehmensspezifische Themen ergänzt werden.

Prinzip der doppelten Wesentlichkeit

Das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit ist eine grundlegende Erweiterung des Berichtsumfangs im Rahmen des Jahresabschlusses. Während bislang die sog. Outside-in-Perspektive maßgeblich in der Finanzberichterstattung einschließlich des Lageberichts zu berücksichtigen ist (finanzielle Wesentlichkeit), wird zukünftig im Rahmen der Nachhaltigkeitsberichterstattung auch über tatsächliche oder potenzielle Auswirkungen des Unternehmens auf sein Umfeld (Mensch, Umwelt, Gesellschaft) zu berichten sein (Auswirkungswesentlichkeit, Inside-out-Perspektive).

Richtigerweise wird darauf hingewiesen, dass beide Wesentlichkeitsaspekte miteinander verknüpft sind und daher auch die Wechselwirkungen beider Dimensionen zu berücksichtigen sind. Für die Berichtspflicht genügt, wenn die Wesentlichkeit einer Perspektive erfüllt ist.

Finanzielle Wesentlichkeit

Die finanzielle Wesentlichkeit bezieht sich auf die betriebswirtschaftlich relevanten Aspekte, wie die Finanzlage, die finanzielle Leistungsfähigkeit, die Cashflows, den Zugang zu Finanzmitteln oder die Kapitalkosten des Unternehmens (ESRS 1 Kap. 38). Allerdings ist zu beachten, dass es sich bei dem Umfang der finanziellen Wesentlichkeit für die Nachhaltigkeitsberichterstattung um eine Erweiterung gegenüber der Finanzberichterstattung handelt, da es auch um Informationen geht, über die in der Nachhaltigkeitserklärung berichtet wird, also z. B. um Auswirkungen des Unternehmens auf die Umwelt, die wiederum Auswirkungen auf das Unternehmen haben. Dies kann sein Geschäftsmodell, seine Marktposition, seine Attraktivität als Arbeitgeber oder seine finanzielle Situation betreffen. Auch werden Zeithorizonte, die für die Nachhaltigkeitsberichterstattung zugrunde gelegt werden, deutlich erweitert (langfristig = über fünf Jahre). Hierbei sind die Eintrittswahrscheinlichkeit und das potenzielle Ausmaß der finanziellen Auswirkungen zu berücksichtigen.

Auswirkungswesentlichkeit

Die Wesentlichkeit der Auswirkungen bezieht sich auf die wesentlichen tatsächlichen oder potenziellen positiven oder negativen Auswirkungen auf Menschen oder die Umwelt, kurz-, mittel- oder langfristig. Hierbei handelt es sich um Auswirkungen in Bezug auf Umwelt-, Sozial- und Governance-Aspekte. Die Wesentlichkeit richtet sich bei den tatsächlichen negativen Auswirkungen nach dem Schweregrad, bei den potenziellen negativen Auswirkungen nach dem Schweregrad und der Wahrscheinlichkeit der Auswirkung. Der Schweregrad bemisst sich dabei nach dem Ausmaß, dem Umfang und der Unabänderlichkeit der Auswirkung.

Doppelte Wesentlichkeit

Das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit ist schon lange in den internationalen Standards zur (freiwilligen) Nachhaltigkeitsberichterstattung verankert (u. a. in den GRI-Standards). Anders als in den europäischen ESRS wird dieses Prinzip aber nicht im ersten Standard S1 („Global Baseline“) des International Sustainability Standards Board (ISSB) für die nach internationalen Rechnungslegungsstandards berichtspflichtigen Unternehmen zugrunde gelegt. Der ISSB vertritt die Ansicht, dass die Berichterstattung allein die Investorensicht abbilden soll, und beschränkt die Berichterstattung zu Umweltaspekten (Standard S2) auf die finanziellen Auswirkungen für das Unternehmen.

Beschreibung der Wesentlichkeitsanalyse nach ESRS 2

In ESRS 2 (IRO-1) ist in Kap.51 ff. vorgegeben, dass ein Unternehmen sein Verfahren zur Ermittlung seiner Auswirkungen, Risiken und Chancen und zur Bewertung ihrer Wesentlichkeit anzugeben hat. Dabei soll ein Verständnis für das Verfahren vermittelt werden, wie die Ermittlung und Bewertung erfolgt, um damit eine Grundlage zur Bestimmung der Angaben in der Nachhaltigkeitserklärung zu erhalten.

In der Beschreibung des Verfahrens sind entsprechend der doppelten Wesentlichkeit zum einen die angewandten Methoden und Annahmen zur Bestimmung der Auswirkungen auf Mensch und Umwelt darzustellen als auch das Verfahren zur Bestimmung der Risiken und Chancen, die finanzielle Auswirkungen haben oder haben können. Auch ist anzugeben, inwieweit sich das Verfahren z.B. auf einzelne Geschäftsprozesse oder geografische Gegebenheiten bezieht und ob betroffene Interessenträger einbezogen wurden.

Die Beschreibung des Verfahrens muss darüber hinaus die Darstellung der Priorisierung der Aspekte umfassen, die letztendlich für die Nachhaltigkeitserklärung ausgewählt werden, einschließlich der Verwendung qualitativer oder quantitativer Schwellenwerte. Kriterien sind hierbei u. a. der relative Schweregrad und die Eintrittswahrscheinlichkeit der Auswirkungen bzw. die Wahrscheinlichkeit, das Ausmaß und die Art der Auswirkungen des ermittelten Risikos und der ermittelten Chancen. Hier ist ggfs. auch über den Einsatz von Instrumenten zur Risikobewertung, über den Prozess der Entscheidungsfindung und die damit verbundenen internen Kontrollverfahren zu berichten.

Die Vorgaben in ESRS 2 (IRO-2) ergänzen hierzu, dass zu den Angaben in der Nachhaltigkeitserklärung auch die Themen zu nennen sind, die infolge der Bewertung der Wesentlichkeit als nicht wesentlich ausgelassen wurden. Kommt ein Unternehmen zu dem Schluss, dass ein Thema nicht wesentlich ist, so kann es nach Kap. 58 die Schlussfolgerungen seiner Bewertung für dieses Thema erläutern.

Umsetzung

Aufgrund fehlender Erläuterungen in den ESRS ist jedes Unternehmen aufgefordert, einen eigenen Ansatz zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung einer Wesentlichkeitsanalyse zu finden. Dabei sind die jeweiligen unternehmensspezifischen Voraussetzungen im Hinblick auf Ressourcen und vorhandene Kompetenzen zu berücksichtigen. Während große und/oder kapitalmarktorientierte Unternehmen vielfach die Unterstützung von Beratungsgesellschaften nutzen, um die Wesentlichkeitsanalyse vorzubereiten, durchzuführen und die Ergebnisse für die Unternehmensleitung aufzubereiten, sind die Mehrzahl der zukünftig berichtspflichtigen Unternehmen mit der Frage konfrontiert, wie sie mit ihren organisatorischen und personellen Möglichkeiten der Erwartungshaltung an eine ordnungsmäßige Durchführung der Wesentlichkeitsanalyse gerecht werden können. Trotz dieser individuellen Ausgangssituation im Unternehmen ist ein sorgfältiges Vorgehen unerlässlich. Diese Notwendigkeit ergibt sich nicht nur aus der Bedeutung für die spätere Berichterstattung, sondern insbesondere auch aus dem Gebot der Nachvollziehbarkeit durch den Abschlussprüfer im Hinblick auf den Prozess und die aus den Ergebnissen gezogenen Schlussfolgerungen.

Thomas Weber